Der Holocaust im Comic. Ästhetik, Genre und Geschichtsvermittlung

Der Holocaust im Comic. Ästhetik, Genre und Geschichtsvermittlung

Organisatoren
Fritz Bauer Institut, Frankfurt am Main
Förderer
Axel Springer Stiftung; Stiftung Zeitlehren
Ort
Frankfurt am Main
Land
Deutschland
Fand statt
In Präsenz
Vom - Bis
28.06.2023 - 29.06.2023
Von
Mona Müller, Johann Wolfgang Goethe-Universität, Frankfurt am Main

Der internationale Workshop wurde von Hans-Joachim Hahn (Aachen/Basel), Ole Frahm (Frankfurt am Main) und Markus Streb (Gießen) konzipiert, die bereits 2019 in Graz die Tagung „Beyond MAUS. The Legacy of Holocaust Comics“ organisiert hatten. Dem Fritz Bauer Institut ist es ein Anliegen, wie der stellvertretende Direktor Tobias Freimüller (Frankfurt am Main) einleitend erklärte, den Austausch zwischen der sehr aktiven Comicforschung einerseits und der Holocaust- und NS-Forschung andererseits zu stärken.

Gegenstand des Workshops war die Diskussion der Besonderheiten des Mediums Comic mit Blick auf die gesellschaftliche, sozial vermittelte „kollektive“ Erinnerung an den Holocaust sowie seine Eignung in der Geschichtsvermittlung. Insbesondere die Ästhetik dieses Massenmediums, das Spannungsverhältnis zwischen verschiedenen Genres wie Horror, Superhero oder den japanischen Manga und den vom regulären Buchmarkt immer mehr adaptierten sogenannten Graphic Novels bildete einen Ausgangspunkt. Bietet sich das Medium des Comics durch seine Trivialität und Stereotypie besonders für die Darstellung der Shoah an? Ermöglicht gerade dieses Medium eine Durchbrechung der Abwehrmechanismen in den Gesellschaften nach 1945?

Hans-Joachim Hahn, Ole Frahm und Markus Streb eröffneten den Workshop mit einigen grundsätzlichen Überlegungen und erinnerten an die Eigenschaft von Comics, ein Medium zu sein, in dem sich Text und Bild wechselseitig kommentieren, parodieren, jedenfalls aneinander reiben. Das habe den Comics von Anfang an die Möglichkeit zur Selbstreflexion des Dargestellten eröffnet. Weil die Comics seit ihrer Entstehung im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts immer unter Kitschverdacht standen, griff Hahn unter Rekurs auf Saul Friedländers einschlägigen Essay „Kitsch und Tod“ (1982) diesen Begriff auf, der mit der Vorstellung einer notwendigen „Angemessenheit“ von Darstellungen des Genozids an den europäischen Jüdinnen und Juden verknüpft erscheint. Im Unterschied zum Genrebegriff eignet sich die pejorative Rede von Kitsch, verstanden als ästhetisch minderwertige Ausdrucksform, jedoch nicht zur Analyse der Reflexionsformen von Comics. Frahm ergänzte dies mit der Erinnerung an die von Terrence Des Pres konstatierte Holocaust-Etiquette, die festlegt, was als geeignete Darstellung erscheint. Diese Rahmensetzung wird allerdings durch verschiedene Comics, die Streb vorstellte, immer wieder in Frage gestellt.

Zu Beginn des ersten Panels untersuchte JACQUELINE BERNDT (Stockholm) am Beispiel japanischer Manga die Grenzen von ideologischen Öffnungen vor dem Hintergrund affektiver Zugänge zum Medium. Entscheidend sei die Reflexion der gleichzeitigen Wirkung des affektiven Realismus als involvierend-verbindend wie auch ausschließend, wodurch der Manga zugleich das Überwinden der Distanz zum Nationalsozialismus ermögliche. Die Darstellung der Shoah in Shojo-Manga breche mit typischen Assoziationen der Niedlichkeit und diene damit als Füllmittel zwischen mediatisierter Welt und NS-Gedenkstätten.

Anschließend untersuchte der leider kurzfristig verhinderte SASCHA FEUCHERT (Gießen) in seinem eingesprochenen Vortrag einen Superman-Comic aus dem Jahr 1998 sowie dessen Rezeption. Die Darstellung Supermans als Kämpfer im Warschauer Ghettoaufstand wurde seinerzeit als Tabubruch kritisiert. Feuchert entwickelte einen neuen Zugang zu dem Comic, indem er Verbindungslinien zwischen der Darstellung mit vorherigen Erzählungen um die Figur eines jüdischen Superhelden (Golem) nachzeichnete und anschließend die Angemessenheit der Darstellung im Medium des Comics diskutierte.

Auch MATHIAS HARBECK (Berlin) diskutierte die Rezeption von US-amerikanischen Holocaustcomics vor dem Hintergrund zeitgenössischer Erinnerungsdiskurse und sich verändernder Geschichtsbilder wie auch der US-amerikanischen Identitätspolitik. Anhand der Analyse typischer Motive und Ästhetiken stellte er die Frage nach einer Normalisierung der Darstellung des Holocaust und diskutierte, inwiefern dieser Prozess, aber auch die Amerikanisierung des Diskurses über den Holocaust durch den Superman-Comic wünschenswert sei.

Das zweite Panel leitete WULF KANSTEINER (Aarhus) über einen historiographischen Zugang zu Comics als Medium ein. Er untersuchte das Potenzial der Text-Bild-Strukturen wie auch die Spezifika der Comics zwischen Genre und Ästhetik am Beispiel ausgewählter Comics wie „Spirou“ von Émile Bravo und „Aber ich lebe“. Mit einem geschichtstheoretischen Schema abgeglichen, erschienen Kansteiner viele Comics in ihrer Darstellung als konservativ.

VERONIQUE SINA (Frankfurt am Main) schloss an die Untersuchung der Anthologie „Aber ich lebe“ an. Im Zentrum stand die Bedeutung der grafischen Vermittlung memorialer Erinnerungen durch Erzählungen von Holocaustüberlebenden. Auch hier wurde die Frage nach der Darstellbarkeit des (Un-)Darstellbaren erörtert, vor allem im Hinblick auf mögliche ästhetische Instrumente des Comics, die mögliche Leerstellen wie die Darstellungen von Traumata visuell füllen können.

An diese theoretischen Untersuchungen anschließend, stellte die Comiczeichnerin BARBARA YELIN (München) ihre aktuelle Arbeit an einem Comic über die Lebensgeschichte der Holocaustüberlebenden Emmie Arbel vor. Neben einzelnen bereits fertigstellten Ausschnitten des neuen Comics, u.a. einem, der das sensible Thema sexuellen Missbrauchs behandelt, gab Yelin einen Einblick in ihren Prozess des Zeichnens als Form des Suchens und Erforschens. Sie erläuterte, dass im Prozess des Zeichnens etwas passiere, was sie nicht kontrollieren könne; das war hinsichtlich der Frage, wie erinnert werden kann, anregend für das weitere Nachdenken über Comics als Medium der Erinnerung. Zentrale Themen in der anschließenden Diskussion betrafen Fragen nach den Grenzen der Darstellbarkeit des Holocaust im Comic.

Im Jüdischen Museum Frankfurt fand der Abendvortrag mit anschließendem Gespräch mit KLAUS THEWELEIT statt. In einer dichten Lektüre des achtseitigen Klassikers „Master Race“ von Bernard Krigstein und Al Feldstein von 1955 sowie – eher überraschend – Robert Crumbs kontrovers diskutiertem „When the goddamn Jews take over America“ versuchte Theweleit zu zeigen, wie Comics durch Ambivalenzen, Provokationen und der Aufforderung zu mehrfacher Lektüre nicht nur den Erinnerungsdiskurs herausfordern, sondern auch die im Unbewussten waltenden Ressentiments. Seine Lektüre von Crumbs viele antisemitische Stereotype reproduzierendem Comic blieb nicht unwidersprochen und führte zu einer lebhaften Diskussion.

Den zweiten Tag des Workshops eröffnete ein gemeinsamer Vortrag von HANS-JOACHIM HAHN (Aachen/Basel), OLE FRAHM (Frankfurt am Main) und MARKUS STREB (Gießen) über Comics, die in den 1960er-Jahren den Holocaust zum Thema machten. Parallel zum Eichmannprozess und zu weiteren NS-Prozessen entstanden einzelne Comics zu Fragen nach Rache, Gerechtigkeit und der justiziellen Ahndung der Verbrechen. Anhand der Analyse verschiedener Beispiele stellten die Referenten verschiedene Spezifika US-amerikanischer Genrecomics in den 1960er-Jahren heraus. Deutlich wurde, wie sich die Auseinandersetzung mit der Shoah im Genrecomic zugleich an das jeweilige Zeitgeschehen wie auch an popkulturelle Trends angepasst hat.

STEFANIE FISCHER (Frankfurt am Main) und KIM WÜNSCHMANN (Hamburg) stellten ihr gemeinsam mit der Künstlerin LIZ CLARKE realisiertes Projekt einer mikrogeschichtlichen Graphic Novel vor. Neben der spezifischen Verfolgungsgeschichte einer jüdischen Familie in Oberbrechen, einem Dorf in Hessen-Nassau wird darin ebenso die jüdisch-nichtjüdische Begegnungsgeschichte nach 1945 auf dem Land dargestellt. Im Mittelpunkt der Vorstellung des Projekts standen vor allem Fragen nach der eigenen Positionierung als deutsche, nichtjüdische Wissenschaftlerinnen und nach Möglichkeiten, diese visuell in der Graphic Novel zu reflektieren und offenzulegen. In der anschließenden Diskussion wurde über die Chancen der graphischen Darstellung geschichtswissenschaftlicher Gegenstände gesprochen, vor allem anhand der Frage, inwiefern diese Zugänge für die Geschichtsvermittlung ermöglichen kann.

Im vierten Panel wurde der Workshop mit Blick auf die Darstellung der nationalsozialistischen Opfergruppen um eine neue Perspektive erweitert. SYLVIA KESPER-BIERMANN (Hamburg) untersuchte die Darstellung von Zwangsarbeiter:innen als Opfergruppe, die bisher in Comics über den Nationalsozialismus kaum thematisiert wurde. Als Ausnahme stellte Kesper-Biermann den Comic „Valentin“ von Jens Genehr heraus, der die Zwangsarbeit am sogenannten Bunker Valentin, einer in den Jahren 1943 bis 1945 gebauten U-Boot-Werft im Norden Bremens, auf Grundlage zahlreicher Fotografien wie auch Berichten von Überlebenden darstellt und darin das Überlieferungsgeschehen selbst reflektiert.

Auch DENNIS BOCK (Hamburg) wählte einen analytischen Zugang zur Darstellung des Holocaust in Comics. Er gab einen Überblick über die Darstellung des sozialen Lebens in Lagern von den 1940er-Jahren bis in die Gegenwart und zeigte anhand dieser Analyse zugleich, welche soziokulturellen Verständnisse den jeweiligen Darstellungen von Gefangenengesellschaften zu Grunde liegen. Deren Erforschung sei, so Bock, besonders zentral, wenn man es vermeiden will, in der Darstellung der Lager die Täterperspektive zu übernehmen und die Opfergruppen zu entsubjektivieren.

KIRSTEN VON HAGEN (Gießen) nahm eine weitere Opfergruppe in den Blick; sie untersuchte die häufig romantisierende und heterostereotypische Darstellung von Sinti:zze und Rom:nja in Comics. Zugleich stellte sie aber auch einen neuen Zugang in jüngsten Veröffentlichungen fest, in denen versucht wird, stereotype Darstellungen zu subvertieren und eine neue kulturelle Erinnerung an die Verfolgung von Sinti:zze und Rom:nja zu schaffen. Im anschließenden Gespräch ging es um die wechselseitige Prägung von Comics und den jeweiligen zeitgenössischen Forschungsständen wie auch der soziokulturellen Beeinflussung des Diskurses. Zugleich wurde gefragt, wie in der Geschichtsvermittlung mit historischen Unschärfen von Comics umgegangen werden muss und inwiefern bestimmte Darstellungen weiterhin in der Vermittlung genutzt werden dürfen, auch wenn sie stereotype Bilder reproduzieren.

In mehreren Vorträgen wurde auf genderstereotype Darstellungen Bezug genommen; eine mehrheitlich fehlende Auseinandersetzung mit weiblichen Perspektiven wie auch geschlechterspezifische Rollenverteilungen in Holocaustcomics wurden anhand mehrerer Beispiele dargestellt. Im letzten Panel wurden diese Aspekte von THOMAS MERTEN (Hamburg) vertieft. Er untersuchte die Darstellung der Anne Frank über die letzten Jahrzehnte wie auch in den verschiedenen Konzeptionen ihres Tagebuchs als Comic. Anne Frank dient laut Merten als Projektionsfläche verschiedenster Stereotype und weiblicher Rollenzuschreibungen. Er stellte die Frage, wo in der Darstellung die Auflösung der echten Person Anne Frank beginnt und ab wann sie selbst zu einem Erinnerungsort wird, der beliebig gefüllt und interpretiert werden kann. Anhand der aktuellen Graphic Novel „Wo ist Anne Frank?“ überlegte Merten, wie die Ikonisierung von Anne Frank zu durchbrechen und Chancen in der Fortschreibung historischer Personen für die Vergegenwärtigung der Geschichte zu erkennen seien.

KALINA KUPCZYSNKA (Łódź) schloss an die Analyse weiblicher Darstellungen in Comics an und erweiterte diese um die Perspektive jüdischer Widerständigkeit. Sie stellte dar, wie marginalisiert die Perspektive jüdischen Widerstands in polnischen Comics über den Nationalsozialismus ist. Vor dem Hintergrund der aktuellen Erinnerungspolitik Polens liege der Fokus stattdessen auf Darstellungen polnischen Widerstands, sowohl von einzelnen Figuren wie Witold Pilecki als auch mit Blick auf den Warschauer Aufstand 1944. In den polnischen Holocaustcomics lasse sich eine „De-Judaisierung“ der jüdischen Widerständigkeit und eine gleichzeitige Übernahme in ein polnisches, nichtjüdisches Narrativ erkennenm und es sei zu fragen, wie sich diese „Polonisierung“ der Holocaustcomics definieren lasse.

Abschließend diskutierten Ole Frahm, Tobias Freimüller, Hans-Joachim Hahn und Markus Streb miteinander und mit den Teilnehmenden über zentrale Themen des Workshops und weiterführende Fragen. Insbesondere ging es um die Grenzen der Darstellbarkeit des Holocaust und von Themen der neueren Holocaustforschung im Comic. Es war Konsens, dass der Comic ein Medium der Ambivalenz ist, ein Medium zwischen historischer Akkuratheit und ästhetischer Inszenierung. Vor allem vor dem Hintergrund von Art Spiegelmans „MAUS“ wurde diskutiert, aus welcher Perspektive welche Themen in Comics dargestellt werden können und welche Etiketten sich vor und nach der Veröffentlichung von „MAUS“ herausgebildet haben. Als wünschenswert wurde eine Stärkung des Gesprächs zwischen Comicforschung und Holocaustforschung bezeichnet. Auch Leerstellen innerhalb der Geschichtscomics wurden aufgezeigt, wie die fehlende Auseinandersetzung mit weiteren Opfergruppen wie genderqueeren und homosexuellen Personen, als sogenannte „asozial“ Verfolgte und behinderte Menschen. Schließlich ist die weitgehend fehlende Thematisierung der Täter:innen im Comic auffällig. Braucht es den Einbezug dieser Aspekte oder fehlen diese gar aus gutem Grund in der bisherigen Darstellung des Holocaust im Comic? Die abschließende Diskussion und der wissenschaftliche Austausch haben zu neuen Perspektiven auf das Thema Holocaust im Comic geführt und gleichzeitig weitere spannende Fragen und Anknüpfungspunkte eröffnet.

Konferenzübersicht:

Panel 1: Genre als Erinnerungsmedium

Jaqueline Berndt (Stockholm): Distanzlos: Affektiver Realismus via „Shojo“-Zeichen

Sascha Feuchert (Gießen): Superman im Getto: Eine alternative Geschichte für einen der „Krepierwinkel Europas“?

Matthias Harbeck (Berlin): Weltkriegserinnerung in Schüben: Die wandelbare Darstellung von Tätern und Opfern im Superhero-Genre seit 1945

Panel 2: Genre Geschichtscomics I

Wulf Kansteiner (Aarhus): Comics als Geschichtsschreibung? Reflexionen zu Genre und Ästhetik

Véronique Sina (Frankfurt am Main): „Aber ich lebe“. Nachträgliche Bilder des Holocaust im Comic

Barbara Yelin (München): Werkstattbericht zum entstehenden Buch über Emmie Arbel

Öffentliche Abendveranstaltung im Jüdischen Museum Frankfurt

Moderation: Ole Frahm (Frankfurt am Main)

Klaus Theweleit: Zur Darstellbarkeit des Undarstellbaren. Comics – Königsweg ins Unbewusste?

Panel 3: Genre Geschichtscomics II

Ole Frahm (Frankfurt am Main), Hans-Joachim Hahn (Aachen/Basel), Markus Streb (Gießen): Das übersehene Jahrzehnt: Genrecomics und die Shoah in den 1960er Jahren

Stefanie Fischer (Frankfurt am Main), Kim Wünschmann (Hamburg), Liz Clarke: Historische Forschung grafisch präsentieren: Die Graphic History „Oberbrechen: A German Village Confronts its Nazi Past“

Panel 4: Vielheit der Opfergruppen im Comic

Sylvia Kesper-Biermann (Hamburg): Zwangsarbeit im Comic: Das Beispiel "Valentin" (2019)

Dennis Bock (Hamburg): „Inside Concentration Camps“. Häftlingsgesellschaften und Formen des Zusammenlebens: NS-Konzentrationslager in Comic Books und Graphic Novels

Kirsten von Hagen (Gießen): Sinti und Roma im Comic: Der Porajmos als Geschichte der Ausgrenzung

Panel 5: Anne Frank und gegenderte Erinnerung

Thomas Merten (Hamburg): Wer ist Anne Frank? Eine Ikone multipler Projektionen

Panel 6: Erinnerungspolitik

Kalina Kupczynska (Łódź): Heldinnen und Helden am Rande: Jüdischer Widerstand gegen das NS-Regime in polnischen Holocaustcomics

Abschlussdiskussion